Stimmbildung

Stimmbildung soll ganzheitlich ,Körper‘, ,Atem‘ und
,Stimme‘ bilden.
Einsingen soll, wo immer möglich, eine Verbindung zu den zu erarbeitenden Songs haben.

Funktionale Stimmbildung
Die Grafik zeigt einzelne, für die Stimmgebung bedeutsame technische Bereiche und ihren Bezug untereinander.
Jeder Pfeil wird gelesen als „beeinflusst“.

Jene Bereiche, von denen dicke Pfeile ausgehen (Atmung, Resonanz, Register), wirken sich unmittelbar auf die Stimmqualität aus, andere Bereiche (Haltung, Artikulation) indirekt.
Nachfolgend eine kurze Definition jedes Bereiches mit Ausnahme der „Ton- und Klangvorstellung“.


Die Haltung verlangt nach einer guten Wirbelsäulenstreckung bei gleichzeitig grösstmöglicher Lockerheit der gesamten Muskulatur. Das setzt voraus, dass die Muskeln je- derzeit bewegungsbereit (also locker) sind. Um den individuellen Voraussetzungen der
Lernenden gerecht zu werden, können begleitend sowohl Muskelkonditionierungs- als auch Entspannungsübungen an- geboten werden.


Die Atmung hat als Ziel die Tiefatmung (=kombinierte Bauch- und Brustatmung). Am Anfang eines Stimmtrainings steht fast immer das Erlernen der Bauchatmung als Grundlage für das Abspannen. Eine gute Haltung ist Grundvoraussetzung für eine günstige Atemform. Die Betonung der Atemtätigkeit liegt (vor allem zu Trainingsbeginn) nicht auf der Einatmung, sondern auf der Ausatmung.


Eine gute Artikulation setzt das Wissen voraus, wie Konsonanten und Vokale bei gleichzeitig relativ lockeren Artikulationswerkzeugen (Lippen, Zunge, Unterkiefer) gebildet werden können. Gutes Sprechen der Konsonanten in Verbindung mit dem Abspannen führt zu einer körpergeführten Artikulation. Voraussetzung dafür ist neben
der eben genannten Atmung auch eine für die Phonation (Tongebung) günstige Haltung.


Die Resonanzräume können sich erst dann ausformen und gewisse Frequenzen der stimmlichen Produktion (z.B. Frequenzen für die Tragfähigkeit der Stimme) verstärken, wenn die Haltung, Atmung und die körpergeführte Artikulation in der Lage sind, die Voraussetzung dafür zu schaffen.
Bei der Ausformung von Resonanzräumen ist einerseits entscheidend, wie gut der Ausatmungsluftstrom während der Phonation minimiert werden kann. Dies geschieht durch die Aktivierung der Einatmungsmuskulatur während der stimmgebenden Ausatmung. Hilfreich sind dabei alle Vorstellungshilfen, die eine Einatmungstendenz in sich tragen, wie z.B. das Staunen. Andererseits ist die Klangvorstellung des beabsichtigten Stimmschalles von grosser Bedeutung (z.B. gelingt ein besserer Vordersitz der Stimme, wenn wir uns vorstellen, Hochdeutsch zu sprechen). Dabei wirken in starkem Masse sprachliche und/oder gesangliche Vorbilder.
Darin liegt auch die Forderung begründet, dass Lehrer und Erzieher eine stimmliche Vorbildfunktion erfüllen sollten.
Bei gutem Gelingen der Atemdosierung und durch die Vorstel- lung unterschiedlicher Stimmklänge stellen sich, je nach Sing- oder Sprechabsicht, unterschiedliche Raumgegebenheiten oberhalb und unterhalb der Stimmlippenebene ein. Die Raumeinstellungen oberhalb der Stimmlippenebene sind von grösserer Bedeutung.


Die eigentliche Erzeugung unserer Stimmäusserungen geschieht durch die Stimmlippen im Kehlkopf. Der Kehlkopf wird im Volksmund auch als „Adamsapfel“ bezeichnet. Wir können laute und leise Töne erzeugen. Wenn bei gleichbleibender Tonhöhe zuerst ein leiser Ton und dann ein lauter Ton produziert wird, muss – physikalisch begründet – für den lauteren Ton der Druck der Ausatemluft unterhalb der Stimmlippen vergrössert werden. Damit die Stimmlippen diesem vergrösserten Druck standhalten können, ohne dass die Tonhöhe verändert wird, ist eine intensivere muskuläre Arbeit vor allem der Muskulatur innerhalb der Stimmlippen notwendig. Durch verstärkte muskuläre Aktivität verändert sich das Schwingungsverhalten der Stimmlippen. Die Beschreibung unterschiedlichen Schwingungsverhaltens der Stimmlippen wird mit Registertätigkeit bezeichnet. Alle vorab beschriebenen Be- reiche (Haltung, Atmung, Artikulation und Resonanz) sind da- ran beteiligt, dass eine Lautstärkesteigerung der Sing- und Sprechstimme nicht mit übermässig hohem Druckanstieg, der für die Stimme eine Belastung darstellt, einhergeht.
Bemerkenswert ist die vollkommen unterschiedliche Einschätzung des eigenen Stimmklanges durch den Sprechenden oder Singenden und einen Zuhörer. Es fällt schwer, die eigene Stimme, wenn sie auf einem Tonträger aufgenommen wurde, bei der Wiedergabe als die eigene Stimme zu akzeptieren. Die meisten bezeichnen ihre eigene Stimme als nicht schön. Diese Tatsache ist für das Stimmtraining von Bedeutung, denn sie unterstreicht die Wichtigkeit des Lehrers nicht nur als Übungsleiter, sondern auch als Zuhörer und damit qualitativer Beurteiler des Gehörten. Aufgrund seiner positiven Verstärkungen speichert der Schüler muskuläre Bewegungsmuster und versucht, sie bei Bedarf wieder abzurufen. Ein zugegebenermassen langwieriger Lernprozess.
Aber das Ohr des Lehrers ist nicht vorurteilsfrei. Es ist für diesen schwierig, ja fast unmöglich, sich subjektiven Vorlieben für bestimmte Klangfarben von Stimmen zu entziehen. Auch der akustische Zeitgeschmack bestimmt die Trainingsarbeit. War es Anfang des vorigen Jahrhunderts gefällig, wenn die Singstimme etwas nasal klang, galt dies in der zweiten Hälfte als unschicklich. Gesangspädagogen berücksichtigen auch diesen Zeitgeschmack und fördern bestimmte Klangfarben der Stimme, wenn sie wollen, dass ihre Schüler Karrierechance haben.
Die Stimmbildung versucht, weder stimmliche Modeströmungen zu befriedigen noch die Stimme in bestimmte Klangrichtungen zu drängen. Die Stimme soll dahingehend gefördert werden, dass einerseits ihre individuell vorhandenen Klang- möglichkeiten ausgebaut werden und andererseits der Gebrauch der Stimme mit grösstmöglicher Ökonomie abläuft.

Quelle: Jochen, W. (2016). Stimm-Kanons. Stimmbildung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Boppard am Rhein: Fidula

Stimmbildung